Ansprache Thomas Grosse am 14. Juni 2018
Wir sind heute hier zusammengekommen, weil wir des uns so freundschaftlich verbundenen Kollegen Professor Friedrich Wilhelm Schnurr gedenken wollen, der vor einem Jahr gestorben ist.
Als Herr Schnurr an seinem 81. Geburtstag, dem 21. Januar 2010 zum Ehrensenator ernannt worden ist, war das eine Würdigung seines bisherigen Wirkens, das man durchaus mit dem Begriff „Lebensleistung“ bezeichnen kann. Gleichzeitig begann auch für ihn noch einmal ein neuer Abschnitt. Der damalige Rektor der Hochschule, mein Amtsvorgänger Professor Martin Christian Vogel wird in der dazu veröffentlichten Zeitungsmeldung mit den Worten zitiert „Wir hoffen, Sie in Zukunft häufig im Senat begrüßen zu dürfen.“ Diese Hoffnung hat sich erfüllt, der neu ernannte Ehrensenator wurde bis kurz vor seinem Tod zu einem verlässlichen Begleiter des Senats der Hochschule für Musik Detmold. Am 25. April 2017 nahm er noch an der konstituierenden Sitzung des neu gewählten Senats teil, von der darauf folgenden Sitzung, die für den 12. Juni angesetzt war, meldete er sich aber ab – er habe einen Termin im Krankenhaus. Solche Gründe werfen immer die Frage in den Raum „Ist es etwas Ernstes?“, so auch in diesem Fall. Herr Schnurr gab sich gleichmütig und es war nicht zu erwarten, dass dies ein letztes Gespräch mit ihm gewesen sein sollte. Seine wie stets pflichtbewusste Abmeldung von der Sitzung wurde gleichzeitig zu seiner Verabschiedung aus der Hochschule, von der er anlässlich der Ernennung zum Ehrensenator sagte, dass sie Teil seines Lebens sei.
Wie sehr das zutrifft, lässt sich unter anderem aus der Tatsache herauslesen, dass wir von ihm zwei Akten aufbewahren: eine Studentenakte und eine Personalakte. Dabei ist es immer wieder erstaunlich, wie wenig doch solche Akten wirklich über eine Person aussagen. Sie widmen sich überwiegend eher schnöden Verwaltungsvorgängen. Deshalb werden wir das Andenken an Friedrich Wilhelm Schnurr heute auch den persönlichen Begegnungen mit ihm widmen, dazu wird dann unser Kollege Professor Pjotr Oczkowski noch viel mehr beitragen.
Eines fröhlichen Menschens soll man auch in Freude und Dankbarkeit gedenken.
Doch geben uns auch die Akten einige Anhaltspunkte, die wie kleine Mosaiksteinchen das Bild von ihm ergänzen. Manche dieser Punkte ließen mich denn auch schmunzeln, denn offenbar war Friedrich Wilhelm Schnurr zwar ein besonders begabter Student, aber ebenfalls ein selbstbewusster junger Mann mit eigenen Interessen, die er auch zu wahren verstand. Ein auf das Jahr 1953 datierter Schriftverkehr mit Lehrenden und der Akademieleitung bezüglich seiner Abmeldung von Konzertveranstaltungen der Akademie könnte in diesem Semester entstanden sein, so aktuell wäre er. Der junge Schnurr beantragte eine Freistellung aufgrund anderer Verpflichtungen, die er bereits zugesagt habe, die Vertreter der Hochschule zeigten sich darüber nachvollziehbarer Weise wenig erfreut. In der Personalakte wiederum werden mehrere Seiten von einem Genehmigungsverfahren gefüllt, das einer Beurlaubung des Dozenten Schnurr galt, weil dieser während des Sommersemesters 1962 eine Konzertreise nach Lateinamerika antreten wollte.
Können solche Vorgänge Auskunft über die Persönlichkeit eines Menschen geben? Auf den ersten Blick nur eingeschränkt. Je länger ich aber darüber nachdachte, umso mehr wuchs meine Erkenntnis, dass es genau solche Fälle sind, die Menschen sich in Erinnerung behalten und in den Momenten abrufen sollten, wenn etwas entschieden werden muss. Ich bin sicher, dass Herr Schnurr sich dieser Vorgänge bewusst geblieben ist. Zu wissen, wie es sich anfühlt, wenn Studierende Engagements annehmen um Geld zu verdienen und dann mit Terminen der Hochschule in Konflikt geraten. Einmal erlebt zu haben, wie die berechtigten Erwartungen der Hochschule an ihre Lehrenden mit attraktiven künstlerischen Projekten außerhalb der Hochschule nicht in Einklang zu bringen sind. Das Verständnis für solche Situationen kann die Grundlage bilden für Entscheidungen mit Augenmaß, für moderierende und ausgleichende Führung und Leitung unserer Hochschule. Nach allem, was wir über den Rektor Friedrich Wilhelm Schnurr gehört haben, ist ihm das bestens gelungen.
Als Pianist und Hochschullehrer hat Herr Schnurr eine gradlinige Karriere gemacht. Leider gibt es aus der Anfangszeit keine Aussagen über seine konzeptionell-pädagogische Haltung. Nicht nur, weil die Hochschullehre damals vermutlich überwiegend in der Meister-Lehrling-Konstellation vonstatten ging und deshalb auf praktische Vermittlung beruhte, sondern auch, weil es zu Akademiezeiten gar keine wettbewerblichen Berufungsverfahren gab. Die Bestellung zum Lehrbeauftragten, die Einstellung als Dozent und letztlich die Übertragung der Professur oblag der Akademieleitung. Beide Rektoren, die Professoren Wilhelm Maler und Martin Stephani kannten und schätzten Herrn Schnurr als Musiker, als Pädagogen und zweifellos auch als Menschen.
Aus den Akten wird ebenfalls deutlich, wie Friedrich Wilhelm Schnurr von Detmold aus immer wieder loszog und Impulse sammelte, sei es als Künstler oder als Pädagoge in vielen Ländern der Erde. Seine besonderen Begabungen werden durch die Berichte über ihn immer wieder herausgestellt. So schreibt beispielsweise am 10 März 1950 Direktor Wilhelm Maler an den Direktor der Miele-Werke, Dr. Zinkann „ist es mir ein Bedürfnis, Ihnen mitzuteilen, dass ich Schnurr sowohl in musikalischer als auch in menschlicher Hinsicht für einen unserer erfreulichsten Studierenden halte“. Im Jahr 1961 berichtet Direktor Martin Stephani an den Herrn Kultusminister über Schnurr: „Sein pädagogisches Können und seine instrumentalistische Reife ließen ihn schnell zu einem aussichtsreichen Hochschullehrer werden mit größter Wertschätzung unter den Kollegen und bei der Studentenschaft. Auf der letzten Spanientournee im November und Dezember 1960 hat er als Nachwuchspianist wiederum großen Erfolg gehabt und hierdurch bestens für unsere Hochschule geworben.“ Zwölf Jahre später, also 1972, schlug Stephani Schnurr für den Posten des stellvertretenden Direktors vor und warb für ihn noch ausführlicher und unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Begebenheiten: „Außerdem ist er [also Herr Schnurr] einer der wenigen deutschen Ersten Preisträger des Faches Klavier beim Internationalen Wettbewerb der Rundfunkanstalten. Mit der seitdem steil angestiegenen Karriere des Genannten ging von Anfang an eine ungewöhnliche pädagogische Begabung und Leistungsbereitschaft, die sich bis zum heutigen Tage in auffallenden Lehrerfolgen äußert. In Ansehung seiner auch sprichwörtlichen charakterlichen Integrität übertrugen ihm Hochschulleitung und Senat deshalb vor Jahresfrist die Leitung des Seminars für Musikerziehung, dessen über die Hochschule hinausreichende Funktion (…) er neben der Betreuung seiner ständig überfüllten Hauptfachklasse mit der ihm eigenen menschlichen und pädagogischen Umsicht wahrnimmt.“
Friedrich Wilhelm Schnurr wurde dann der dritte Leiter unserer Hochschule. Am Ende seines Rektorats berichtete der damalige Kanzler, Friedrich Kramer, dem Ministerium folgendes: „Es erwies sich als Vorteil, dass Schnurr aus dieser Hochschule selbst hervorgegangen ist, so dass er schon als Student dieses Institut kannte. (…) Noch in den letzten Jahren, in denen die Aufgaben der Strukturreform ihn mit zunehmender Organisationsarbeit belasteten, brachte er ein bewundernswertes Gleichgewicht neben seiner Arbeit als Rektor der Hochschule, der pädagogischen Arbeit in seiner Klasse, aus der bedeutende Schüler und Schülerinnen hervorgingen und der eigenen künstlerischen Tätigkeit zustande.“ Es folgt eine Aufzählung der von dem scheidenden Rektor vorangebrachten Projekte und die Ausführungen münden in folgendem Absatz: „Neben allen diesen nach außen wirksamen Maßnahmen darf jedoch nicht vergessen werden, daß Schnurr auch stets versuchte, den besonderen Charakter der Musikhochschule ,im Grünen‘ zu erhalten“.
1994 ging Friedrich Wilhelm Schnurr in Ruhestand, also vor über zwei Jahrzehnten. Mittlerweile kennen ihn die meisten Mitglieder und Angehörigen unserer Hochschule gar nicht mehr als aktiven Hochschullehrer und -leiter. Unsere Erinnerung gilt vielmehr dem Ehrensenator, dem Konzertbesucher und dem Pianisten – so trat er in Detmold immer noch in Erscheinung und die Begegnungen mit ihm waren stets geprägt von seinem offenen Blick, seinem Lächeln und seiner wachen Zugewandtheit. Freundlich, eher fragend als fordernd, dabei immer klar im Ausdruck und ehrlich seinem dem Gegenüber interessiert. Besonders vergnügt schien er, wenn sich sein Umfeld mit Problemen herumschlug, die er in seinem langen Berufsleben teilweise mehrfach auf dem Schreibtisch liegen hatte. Im Bewusstsein, dass an Hochschulen offenbar periodisch alles wiederkommt, ließ er solche Themen mit bewundernswerter Gelassenheit durch langjähriger Berufs- und Lebenserfahrung einfach an sich abperlen. Und selbst wenn er anderer Meinung war – und das kam im Senat, manchmal auch nach Konzerten mitunter vor – blieb er den Argumenten gegenüber offen, dachte nach und falls er zu einer neuen Bewertung kam, sagte er das auch. Das ist eine der großartigsten Charaktereigenschaften, die ich persönlich erleben durfte. Als Herr Schnurr mich einmal zum Tee einlud und berichtete, wie ein Gespräch mit seinem Sohn Michael dazu geführt habe, dass er plötzlich nachvollziehen könne, weshalb der aktuelle Senat Dinge ganz anders beurteile, als er und seine Generation, war ich tief beeindruckt. Diese Fähigkeit ist Bestandteil einer starken und selbstbewussten Persönlichkeit. In diesem Moment bewies er eindrücklich, wie die Gesprächsbereitschaft zwischen Menschen gepflegt und gegenseitige Wertschätzung erhalten werden können. Auch in dieser Hinsicht ist er ein wunderbarer Mensch und ein wahres Vorbild gewesen.
Nachdem ich nun alle diese Aussagen aus verschiedenen Jahrzehnten zusammengetragen habe, fehlt noch die zentrale Erkenntnis, wegen der wir uns heute hier versammelt haben: Friedrich Wilhelm Schnurr bleibt uns als ein unglaublich liebenswerter Mensch in Erinnerung. Ich habe in den Jahren, die ich in Detmold bin, nur Menschen getroffen, die ihn gern hatten.
Anlässlich seiner Ernennung zum Ehrensenator sagte Friedrich Wilhelm Schnurr: „Die Hochschule ist Teil meines Lebens“. Es gilt auch umgekehrt: Sein Leben ist Teil dieser Hochschule und er soll immer in unserer Erinnerung bleiben.
(Prof. Dr. Thomas Grosse)