Es ist heute aus guten Gründen üblich, Klavierwerke von Johann Sebastian Bach und anderen Barock-Komponisten vorzugsweise auf Originalinstrumenten zu spielen, also auf dem Cembalo oder auf dem Clavichord. Dennoch ist es nicht überflüssig geworden, insbesondere Bach weiterhin auch auf dem modernen Flügel zu spielen, im Konzert, im Aufnahmestudio und vor allem im Unterricht. Denn es gibt kaum einen Komponisten, dessen Werke zur Bildung des musikalischen Bewußtseins und des künstlerischen Geschmacks so hilfreich sind wie die von J.S.Bach. Er selbst hat beispielsweise seine zwei- und dreistimmigen Inventionen ausdrücklich zu pädagogischen Zwecken geschaffen: Sie sind als Einführung in die Kunst der Komposition
gedacht, da jeder Musiker damals auch komponierte, und sie dienen, was für heutige Klavierschüler unvermindert wichtig geblieben ist, der Erlernung des „cantablen” Spiels.
Doch nicht nur die Inventionen, auch viele andere kleinere Werke schrieb Bach für seine Schüler. Dies bezeugen unter anderem die „Notenbüchlein” für seinen Sohn Friedemann und seine zweite Frau Anna Magdalena. Das Notenbüchlein für Friedemann Bach (Cöthen 1720) enthält sechs kleine Präludien, die exemplarisch in bestimmts Spielweisen und Verzierungsregeln einführen. Eines dieser Stücke, das in g-Moll, hat Bach sogar Note für Note mit Fingersätzen versehen. dass selbst solche übungsstücke kleine Meisterwerke sind, versteht sich bei Bach von selbst.
Im ersten Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach (1722) finden sich fünf der insgesamt sechs Folgen kleinerer Tanzsätze, die wir unter dem Namen „Französische Suiten” kennen. Wir können an ihnen damals gebräuchliche Tanzformen exemplarisch studieren, aber auch lernen, wie man auf dem Klavier artikuliert, phrasiert und rhythmisch charakterisiert. Dazu muß man wissen, dass scharfer Rhythmus damals noch nicht durch den erst später eingeführten zweiten Verlängerungspunkt notiert wurde und dass ein Pausenzeichen überhaupt keinen Punkt erhielt. Nur dem jeweiligen Zusammenhang kann man daher entnehmen, ob bei einfacher Punktierung ein Rhythmus im Verhältnis 3:1 oder 7:1 gemeint ist. Ich versuche beispielsweise in der Sarabande der hier eingespielten 5. Französischen Suite, diesem Umstand gerecht zu werden, denn eine der Notierung nach heutiger Lesart folgende Ausführung wäre mit Sicherheit nicht überall richtig.
Dasselbe gilt für das Adagio der Toccata in D-Dur, die wahrscheinlich schon in Arnstadt (vor 1708) entstand. Sie ist im übrigen ein glänzendes Virtuosenstück des jungen Bach, das im Wechsel von Improvisation und strengem Fugato, von „cantablen” und spielerisch brillanten Abschnitten auch auf dem Konzertflügel seine Wirkung nicht verfehlt.
F. W. Schnurr (Einführungstext zur CD mit Klavierwerken von J. S. Bach 1996)