Friedrich-Wilhelm
Schnurr
Brahms Klavierstücke
1929 – 2017
OK
Klavierstücke von Johannes Brahms

Das Programm dieser CD spannt einen Bogen von dem ersten Klavierwerk von Johannes Brahms, das nicht der strengen Selbstkritik des Komponisten zum Opfer gefallen ist, bis zu seinem letzten Stück für Klavier allein: vom furiosen Scherzo es-Moll bis zu jener großartigen Rhapsodie, die zwar in triumphalem Es-Dur beginnt, doch ebenfalls in schroffem es-Moll schließt. (Zufall?)
Robert und Clara Schumann waren durch Joseph Joachim auf das junge Genie bereits vorbereitet, das sie am l. Oktober 1853 in Düsseldorf besuchte, um sich ihnen vorzustellen. Dennoch Kann man sich leicht ausmalen, in welche Begeisterung die Schumanns geraten mußten, als sie neben der C-Dur-Sonate auch dieses Scherzo in seiner hinreißenden Wildheit und zugleich anrührenden Empfindsamkeit hörten, wobei man davon ausgehen kann, dass Brahms als der glänzende Pianist, der er war, seine oft sehr schwierigen Werke in jeder Hinsicht kompetent vorzutragen vermochte. Auch wenn in manchen Teilen das Vorbild Chopin (der ja im übrigen von Schumann hoch verehrt wurde) deutlich hervortrat, war dies doch insgesamt ein neuer Ton, eben ganz und gar Brahms.
Schnell erwuchsen zwischen der Familie Schumann und dem jungen Brahms freundschaftliche Gefühle, die noch vertieft wurden, als Robert Schumann nach wenigen Monaten einen Selbstmordversuch beging und in die Heilanstalt Endenich bei Bonn eingewiesen werden mußte. Er besuchte nicht nur häufig den älteren Freund, sondern er gab seiner Verehrung für ihn auch dadurch Ausdruck, dass er Variationen über das erste der „Albumblätter” aus Schumanns „Bunten Blättern” op.99 komponierte. Sie sind in Klang und Atmosphäre ganz vom Geiste Schumanns bestimmt und zugleich mit vielerlei kontrapunktischen Formen durchsetzt, die jedoch nie vordergründig um ihrer selbst willen erscheinen, sondern vielmehr dem roman- tischen Schwärmen ein ordnendes Element eingeben. Hierin kündigt sich schon der große Klassizist an. Außer dem fis-Moll-Thema wird noch ein weiteres Stück aus den „Albumblättern” zitiert (Variation 9), und auch die Reverenz an Clara Schumann fehlt nicht: Am Ende der 10. Variation erkennen wir ein Thema der dreizehnjährigen Clara, das Robert Schumann zwanzig Jahre zuvor als Grundlage seiner Impromptus op.5 gedient hatte.

Auch nach Robert Schumanns Tod im Juli 1856 dauerte die Freundschaft zwischen Johannes Brahms und Clara Schumann, von gelegentlichen Trübungen abgesehen, lebenslang fort. Neben vielen Briefen ist eines der schönsten Dokumente dieser Freundschaft die von Brahms selbst besorgte Klavierfassung des Variationssatzes in d-Moll aus dem 1860 entstandenen Streichsextett op.18, denn Brahms schenkte sie Clara Schumann zum Geburtstag. Wiederum kann man sich leicht vorstellen, mit welcher Freude die große Pianistin dieses herrliche Stück mit seiner großen Steigerung in Klang und Bewegung, seiner rührenden Zartheit in der Dur-Variation und der tiefen Verinnerlichung seiner Coda aus dem Manuskript spielte. Welch ein Geburtstagsgeschenk!
War Brahms' Klavierstil in seinen Frühwerken noch durch oft rauhe Klänge, weite Sprünge und schwierige Pedalprobleme gekennzeichnet, so nahm er in seinem späteren Schaffen allzu heftige Extreme mehr und mehr zurück, füllte klanglich leere Räume durch fließende Figuren aus und schuf zwischen großen Kontrasten oft vermittelnde übergänge. Typisch sind in seinen späten Werken Tempoangaben mit dem Zusatz „ma non troppo”. Und die Bezeichnung ff findet man nur noch selten. Mehr und mehr zog sich der Meister, der im menschlichen Umgang bei aller Güte bekanntlich sehr schroff sein konnte, in sich zurück. So muten seine Stücke op.118 und op.119 zuweilen wie Selbstgespräche und intime Reflexionen an, die jedoch auch in leidenschaftliche Gefühlsausbrüche umschlagen (op.118 Nr.4) oder durch subtilen Humor aufgehellt (op.119 Nr.3) werden können. Als biographischen Hintergrund mag man die heimliche und unerfüllbare Liebe zu der Frau eines guten Freundes vermuten. Das letzte Intermezzo aus op. 118 (auch dieses tück steht in es-Moll!) könnte in seiner tragischen Größe geradezu das Fazit eines an schmerzlichen Entsagungen reichen Lebens sein.

F. W. Schnurr (Einführungstext zur CD mit Klavierstücken von J. Brahms 1993)

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Last modified: June 22 2020