Friedrich-Wilhelm
Schnurr
Beethoven Sonaten op. 101/106
1929 – 2017
OK
Beethovens Sonaten op.101 und 106

Beethovens Klaviersonate A-Dur, veröffentlicht im Jahre 1816 als op.101, wird allgemein als Beginn seines Spätwerks angesehen. Schon immer hatte Beethoven mit jedem Werk, so auch mit jeder Klaviersonate, etwas individuell Neues geschaffen. Dabei war er mit den traditionellen Formen der mehrsätzigen Sonate oft sehr frei umgegangen. Aber die Radikalität, mit der Beethoven nun in seinem Opus 101 musikalische Formelemente verdichtete und zugleich bisher unbekannte Ausdrucksbereiche eröffnete, war mehr als die bloße Fortsetzung des früheren Weges: Sie bedeutete einen entscheidenden Schritt in eine neue Epoche der Musik.
Gleich im ersten Satz der A-Dur-Sonate mit seinem scheinbar improvisierten Anfang, der die Haupttonart nur streift und gleich zur Dominante E-Dur drängt, glauben wir zuweilen bereits Schumann zu hören. Dieser Satz, voll blühender Melodik und „mit innigster Empfindung” zu gestalten, wirkt gar nicht wie ein Sonatensatz, als der er sich erst bei genauerer Analyse zu erkennen gibt. So sehr sind strenge Form und individueller Ausdruck miteinander verbunden. Auch der federnde Rhythmus des rasch dahinfliegenden zweiten Satzes („vivace alla marcia”) weist auf Schumann voraus. Aber auch hier erscheint jegliche musikalische Extravaganz durch strenge polyphone Formen gebändigt, bis hin zur kanonischen Imitation im Mittelteil. Der nur zwanzig Takte umfassende dritte Satz („langsam und sehnsuchtsvoll”), der über eine flüchtige Erinnerung an den Anfang der Sonate zum Finale führt, gehört zu den tiefsten Eingebungen Beethovens. Das Finale („mit Entschlossenheit”), gewichtigster Satz der Sonate und Ziel ihrer gesamten Entwicklung, gipfelt in einem großen, schwungvollen Fugato in grimmigem a-Moll, das nach der Reprise offenbar das letzte Wort behalten möchte. Doch in einer hinreißenden Wendung kehrt das lyrisch empfindsame A-Dur des ersten Anfangs zurück und bringt mit spielerischen Figuren und klangvollen Akkorden die Sonate zum glücklichen Ende.
Nicht nur für den ausführenden Pianisten, auch für den Zuhörer gehört das Opus 101 zu den schwierigsten und geistig anspruchsvollsten Sonaten Beethovens. Er widmete sie seiner Schülerin Dorothea v. Ertmann, die er als Interpretin seiner Werke besonders hoch schätzte und die vielleicht die „ferne Geliebte” seines berühmten Liederzyklus gewesen sein könnte.
Erst drei Jahre später erschien die nächste Klaviersonate des Meisters, die „Große Sonate für das Hammerklavier” in B-Dur, op.106, kurz „Hammerklaviersonate” genannt, als Beethovens größte Sonate vielfach bewundert und wegen ihrer extremen Schwierigkeit wohl auch gefürchtet. (Mit „Hammerklavier” ist übrigens nicht etwa ein anderes Instrument gemeint: Beethoven wollte damit lediglich die gebräuchliche Bezeichnung „Pianoforte” durch ein deutsches Wort ersetzen.) „Da haben Sie eine Sonate, die den Pianisten zu schaffen machen wird, die man in fünfzig Jahren spielen wird,” schrieb Beethoven an seinen Verleger.

Tatsächlich dauerte es mehr als ein halbes Jahrhundert, bevor es namentlich Hans von Bülow gelang, sie einem größeren Publikum näher zu bringen.
Noch ein letztes Mal kehrt Beethoven zur traditionellen viersätzigen Sonatenform zurück, die er ins Riesenhafte ausweitet. In allen Sätzen spielen Motive aus Terzen bzw. Dezimen eine beherrschende Rolle, und auch darüber hinaus gibt es viele thematische und tonartliche Beziehungen, so dass das ganze Werk trotz seiner komplizierten Struktur und zeitlichen Ausdehnung bei näheren Kennenlernen durchaus überschaubar wird.
Das Eingangsthema des grandiosen Kopfsatzes ist identisch mit dem Beginn einer nur skizzierten Huldigungskantate für den Erzherzog Rudolph von Österreich, dem auch diese Sonate gewidmet ist: „Vivat, vivat, Rudolfus!”. Auf dem dramatischen Höhehepunkt der Entwicklung, kurz nach der Reprise, erscheint dieses ursprünglich trumphale B-Dur-Thema, jedoch verwandelt zu einem Aufschrei der Verzweiflung in h-Moll, wozu Beethoven an anderer Stelle notiert: ”h-Moll = schwarze Tonart”. Es folgen ein wahrhaft atemberaubendes kurzes Scherzo und ein großes Adagio sostenuto in fis-Moll, „vielleicht das Schönste, was unserem Instrument geschenkt worden ist” (Edwin Fischer) und dessen Tiefen wir nicht mit Worten erfassen können.
Nach alldem ein entsprechend gewichtiges Finale zu komponieren, musste als eingentlich unlösbare Aufgabe erscheinen. Beethoven löste sie im Falle der neunten Sinfonie mit Hilfe der meschlichen Stimme, durch Vertonung von Schillers „Ode an die Freude”. Im Rahmen eines Klavierwerkes konnte nur die strengste aller Formen das Problem lösen: die Fuge. Also komponierte er nach allen Regeln der Kunst, doch „con alcune licenze” (mit einigen Freiheiten), ein riesige Doppelfuge. Auch wenn der Hörer die Verarbeitung der Themen durch Vergrößerung, Engführung, Umkehrung, Krebsgang etc. nicht immer sofort erkennt, wird er doch von der elementaren Kraft dieses Finales überwältigt sein.
Was Beethoven über seine Missa Solemnis schrieb, gilt gewiss auch hier: „Von Herzen - möge es wieder zu Herzen gehen!” So leiten uns unsere Empfindungen vom strahlenden Beginn des Kopfsatzes über das dämonische Scherzo und durch die Tiefen des Adagios zum tragischen Ringen der Fuge, bis aus dem Zusammenbruch am Schluss wie der Phoenix aus der Asche sich das Dezimenmotiv des Anfangs sieghaft erhebt und den Kreis schließt.

F. W. Schnurr (Einführungstext zur CD mit den Klaviersonaten op.101 u. 106 von L. v. Beethoven 1996 MM-1021)

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Last modified: June 22 2020